Die Messung der Anaeroben Kapazität: Methoden, Anwendungen und Tipps für Athleten
Entdecken Sie Methoden zur Messung der anaeroben Kapazität im Sport: Wingate-Test, Critical Power und mehr. Praktische Tipps für Training und Leistungsoptimierung in der Sportwissenschaft.

Die anaerobe Kapazität ist ein zentraler Bestandteil der Leistungsfähigkeit in vielen Sportarten. Sie beschreibt die Fähigkeit des Körpers, Energie ohne den Einsatz von Sauerstoff zu gewinnen, insbesondere durch die Spaltung von ATP und Kreatinphosphat sowie die anaerobe Glykolyse. Diese Prozesse sind essenziell für explosive und hochintensive Aktivitäten wie Sprints, Sprünge oder intensive Intervalle. In der Sportwissenschaft wird die Messung der anaeroben Kapazität genutzt, um Trainingspläne zu optimieren, Fortschritte zu überwachen und Schwächen zu identifizieren. Doch wie misst man sie genau? In diesem Beitrag tauchen wir tief in die Welt der Leistungsdiagnostik ein und beleuchten bewährte Methoden, ihre Durchführung und praktische Relevanz.
Grundlagen der Anaeroben Energieversorgung
Bevor wir zu den Messmethoden kommen, lohnt sich ein kurzer Rückblick auf die physiologischen Grundlagen. Der menschliche Körper deckt seinen Energiebedarf über drei Systeme: das alaktazide (ohne Laktatbildung, <10 Sekunden), das laktazide (mit Laktat, 10–120 Sekunden) und das aerobe (Sauerstoffbasiert, >2 Minuten). Die anaerobe Kapazität umfasst die ersten beiden und wird in ATP-Äquivalenten pro Kilogramm Muskelmasse gemessen – typischerweise 20–25 mmol/kg für alaktazid und bis zu 50 mmol/kg für laktazid.
Trainingsinduzierte Anpassungen, wie eine höhere Kreatinphosphat-Speicherung oder verbesserte Laktattoleranz, erhöhen diese Kapazität. Eine genaue Messung hilft Athleten, ihr Training zu individualisieren: Sprinter profitieren von alaktazider Stärke, während Mittelstreckenläufer die laktazide Kapazität priorisieren. Fehlende Diagnostik kann zu Über- oder Unterforderung führen, was Verletzungen oder Plateaus begünstigt.
Der Wingate Anaerobic Test: Der Goldstandard für Power und Kapazität
Der Wingate-Test, entwickelt in den 1970er Jahren am Wingate Institute in Israel, ist eine der am häufigsten genutzten Methoden zur Bestimmung der anaeroben Kapazität. Er simuliert eine 30-Sekunden-Sprintbelastung auf einem Fahrrad-Ergometer und liefert Daten zu Peak Power (maximale Leistung in den ersten 5 Sekunden), Mean Power (durchschnittliche Leistung) und Fatigue Index (Leistungsabfall).
Durchführung: Nach einem 5–10-minütigen Aufwärmen mit progressiven Intensitäten startet der Proband in einem Flugstart (z. B. von einer Rolle ab). Die Bremskraft beträgt 7,5 % des Körpergewichts (für Erwachsene), und der Test dauert exakt 30 Sekunden bei maximaler Pedalgeschwindigkeit. Sensoren erfassen Drehzahl und Leistung in Echtzeit. Post-test wird optional Blutlaktat gemessen, um die laktazide Komponente zu validieren.
- Peak Power: Misst alaktazide Leistung (ca. 10–12 W/kg bei Elite-Athleten).
- Mean Power: Indikator für gesamte anaerobe Kapazität (ca. 8–10 W/kg).
- Fatigue Index: Zeigt die Ausdauer unter Azidose (idealerweise <50 %).
Vorteile: Hohe Reliabilität (Test-Retest-Korrelation >0,9), standardisiert und feldtauglich mit moderner Ausrüstung. Er korreliert gut mit Wettkampfleistungen in Sprintsportarten.
Nachteile: Hohe Belastung birgt Verletzungsrisiken (z. B. für Knie), und die Ergebnisse sind geschlechts- und altersabhängig. Nicht ideal für nicht-zyklische Sportarten wie Laufen.
In der Praxis eignet sich der Wingate-Test hervorragend für Fußballer oder Radfahrer, um die Erholungsfähigkeit nach Sprints zu trainieren. Regelmäßige Messungen (alle 4–6 Wochen) tracken Fortschritte, z. B. eine Steigerung der Mean Power um 5–10 % durch HIIT-Training.
Die Critical-Power-Methode: Mathematische Präzision für Ausdauerathleten
Die Critical-Power-Methode (CP), erstmals 1965 von Monod und Scherrer beschrieben, trennt anaerobe von aerober Leistung durch eine hyperbolische Modellierung. Sie basiert auf der Annahme, dass die anaerobe Kapazität (w') eine konstante "Währung" ist, die bei Belastungen über der kritischen Power (CP, aerobe Schwelle) verbraucht wird.
Durchführung: Der Athlet absolviert 3–5 konstante Belastungen bis zur Erschöpfung (z. B. 60 s bei 500 W, 120 s bei 400 W, 300 s bei 300 W auf dem Ergometer). Aus Zeit (t) und Arbeit (W = Power × t) wird eine lineare Regression erstellt: W = CP × t + w'. CP ergibt sich aus dem Schnittpunkt der x-Achse, w' aus der Steigung (in Joule, umgerechnet in ml O2).
- CP-Wert: Maximale haltbare Leistung (ca. 80–90 % VO2max).
- w': Anaerobe Kapazität (ca. 15–25 kJ, abhängig von Training).
Vorteile: Nicht-invasiv, trennt Systeme klar und erlaubt Vorhersagen für Wettkämpfe (z. B. Zeit bis Erschöpfung = w' / (P – CP)). Gut für Längsschnittstudien.
Nachteile: Annahmen sind vereinfacht (z. B. variabler Wirkungsgrad), und der Test erfordert mehrere Sitzungen. w' sinkt bei kürzeren Dauern, was die Validität mindert.
Diese Methode ist ideal für Radsportler oder Ruderer, die ihre Taktik optimieren wollen. Eine Erhöhung von w' durch Intervalltraining verbessert die Fähigkeit, Attacken länger durchzuhalten.
MAOD: Der Sauerstoffdefizit-Ansatz für Gesamtkapazität
Das Maximal Accumulated Oxygen Deficit (MAOD) quantifiziert die gesamte anaerobe Kapazität als Differenz zwischen erwarteter und gemessener Sauerstoffaufnahme bei supramaximaler Belastung. Entwickelt von Medbø et al. in den 1980er Jahren, ist es besonders für Laborumgebungen geeignet.
Durchführung: Zuerst kalibriert man die lineare Leistungs-O2-Funktion mit submaximalen Stufen (z. B. 10 × 4-min Belastungen). Dann folgt ein All-Out-Test (z. B. 2–3 Minuten bei 120 % VO2max) mit kontinuierlicher Spiroergometrie. MAOD = ∫ (erwartete O2 – gemessene O2) dt, inklusive Korrektur für O2-Kinetic (τ ≈ 30 s).
- MAOD-Wert: Ca. 50–80 ml/kg, 90 % anaerob.
- Validierung: Korreliert mit Biopsie-Daten (r=0,94).
Vorteile: Umfassend, inklusive alaktazid/laktazid; hohe Korrelation zu realen Leistungen.
Nachteile: Zeitintensiv (bis 2 Stunden), teure Ausrüstung und anfällig für Messfehler bei nicht-linearen O2-Kurven.
MAOD eignet sich für Schwimmer oder Triathleten, um die anaerobe Reserve in hybriden Belastungen zu bewerten. Trainingseffekte zeigen sich in einer MAOD-Steigerung von 10–15 % nach 8 Wochen.
Weitere Methoden: RSI und Laktatbasierte Tests
Neben den Kernmethoden gibt es ergänzende Ansätze wie den Repeated Sprint Ability (RSI)-Test für team-sportartspezifische Kapazität. Hier absolviert der Athlet 6–10 Sprints à 30–40 m mit 20–30 Sekunden Pause; gemessen werden Gesamtzeit, Fatigue und Laktatpeak.
Laktatbasierte Feldtests, z. B. der 3 × 60-m-Sprint, nutzen Nachbelastungslaktat (NBL) zur Schätzung: Eine niedrige NBL bei hoher Geschwindigkeit deutet auf hohe alaktazide Kapazität hin. Diese sind kostengünstig und praxisnah, aber weniger präzise als Labortests.
- RSI-Vorteile: Simuliert Spielphasen, misst Erholung.
- Nachteile: Weniger standardisiert, wetterabhängig.
Insgesamt empfehlen Experten eine Testbatterie: Wingate für Power, CP für Ausdauer, MAOD für Gesamtbild.
Vorbereitung, Durchführung und Interpretation
Erfolgreiche Messungen erfordern sorgfältige Vorbereitung: 48 Stunden vor dem Test kohlenhydratreiches Essen, Hydration und Schlafoptimierung. Vermeiden Sie Koffein oder NSAIDs, die die Laktatdynamik beeinflussen. In der Durchführung achten Sie auf Motivation – ein erfahrener Tester steigert die Validität.
Interpretation: Vergleichen Sie Werte mit Normtabellen (z. B. Peak Power >12 W/kg für männliche Elite). Eine Zunahme der Kapazität signalisiert effektives Training; Stagnation deutet auf Überlastung hin. Berücksichtigen Sie Alter, Geschlecht und Sportart – Frauen zeigen oft 20–30 % niedrigere Werte aufgrund hormoneller Faktoren.
Anwendungen im Training und Limitationen
Die Daten fließen direkt in die Periodisierung: Hohe anaerobe Kapazität erlaubt intensivere Intervalle, niedrige priorisiert Grundlagentraining. In der Prävention hilft sie, Ungleichgewichte (z. B. Power vs. Kapazität) zu korrigieren und Verletzungen vorzubeugen.
Dennoch hat die Diagnostik Grenzen: Individuelle Variabilität (z. B. Genetik, Tagesform) und ethische Aspekte bei Jugendlichen. Zukünftige Entwicklungen, wie tragbare Sensoren, könnten Feldmessungen revolutionieren.
Fazit: Investition in präzise Diagnostik
Die Messung der anaeroben Kapazität ist kein Luxus, sondern ein Schlüssel zur Leistungssteigerung. Ob Wingate, Critical Power oder MAOD – jede Methode bietet einzigartige Einblicke. Athleten und Trainer, die diese Tools nutzen, gewinnen einen Wettbewerbsvorteil. Starten Sie mit einer Baseline-Messung und tracken Sie Ihren Fortschritt – die Ergebnisse werden Sie motivieren. Für personalisierte Beratung konsultieren Sie zertifizierte Sportwissenschaftler.


